Baumstamm im Wasser

Kinderschrei

11:55, notierte die Krankenschwester auf ihrem Blog. Ein Schrei und schon ging das Rennen los. Im Kreißsaal war der Start erfolgt und sein Leben versprach reich an Jahren zu werden. Ein ganzes Jahrhundert, wenn das Glück ihm hold sein würde. Doch davon wusste es nun noch nichts.
Erst einmal Schreien war angesagt, während andere bereits die Weichen setzten, für ein erfülltes und frohes Leben. Wobei, voll und erfolgreich würde es besser treffen.
Aber genug davon. In drei Jahren musste es sich bereits gegen Altersgenossen behaupten. Ausbildung ist wichtig – Existenzbedingung. So sahen es die Werte der Menschen. Blind beachteten diese nur die Besten und waren dann noch auf diese neidisch. Andere gab es dann nicht. Der Zweitbeste, wie das schon klingt. Irgend so einer aus der Provinz, dessen Arbeit man nicht schätzen musste, und dass er ein Mensch ist, was zählt das schon. Man muss sich beweisen, behaupten, Werte erreichen. Und die Latte ist hoch, schließlich ist der Zweitbeste erster der Verlierer.
Hart ist es schon, aber was soll man tun: Wer glücklich sein will, muss Geld haben. Glück kauft man. Im Supermarkt der Kilopreis: unbezahlbar. Deshalb auch wollen die Menschen immer mehr. Millionen, sie reichen nicht. Nur wenige Gramm vergänglicher Zufriedenheit gibt es dafür. Vielleicht noch Lob, da man zu den Besten gehört und tonnenweise Neid, Wut und böses Blut. Nur weil man die Werte der Menschen erreicht hatte, und diese so sein wollten, wie man war. Nur, sie waren es nicht.
Wie gut, dass der Balge noch nichts von diesen Gesellschaftswerten wusste. Aber bald schon würden sie fragen, die Nachbarn, die Bekannten. Und wie macht es sich? Lernt es auch gut?
Die mitleidigen Blicke, wenn es den Werten fern blieb, diesem menschgemachten Maß aller Dinge. Dem einzigen Weg zum Glück. Nur, wenn das stimmte, warum hat man noch nie einen Menschen gesehen, der so glücklich ist, dass er zufrieden ist? Gibt es derer nicht? Oder sieht man sie nicht? Weil sie nicht reich waren, nicht so viel Lärm machten? Nicht goldbehangen prahlten? Nein, das konnte nicht sein. Wo sollten sie ihr Glück denn finden, wenn nicht im Supermarkt? Etwa in sich selbst, wie einige Exzentriker manchmal behaupteten? Aber warum dann diese Werte?
Gut, dass keiner dem Kind solche Flausen in den Kopf setzte. Es würde seinen Weg schon gehen. Es war doch noch so jung. Vielleicht würde es die Latte gar schaffen und am Ende ins Geschäft gehen, als junger Mensch vielleicht schon. Freundlich, wohlerzogen: Ein Kilo Glück, bitte.
Und sollte es nicht schnell genug sein, nun, es hatte schließlich hundert Jahre zum Laufen. Und allein musste es auch nicht rennen. So viele gab es, die es überholen wollten. Die einen beschämt, weil es zu langsam war, die anderen neidisch, weil sie nicht hinter her kamen.
Immer noch schrie das neugeborene Kind, während die Krankenschwester es hinaus trug, recht hatte es. Und vielleicht – wenn es Glück hatte – würde es in hundert Jahren sagen können, dass es wenigstens einen Tag wirklich gelebt hat.

Hinterlasse einen Kommentar